75 Jahre Grundgesetz
Das Grundgesetz feiert am heutigen Tage seinen 75. Geburtstag. Dies ist ein guter Anlass, einen Blick auf einige Aspekte der Grundstruktur der deutschen Verfassung zu werfen. Die Kenntnis dieser Strukturen ermöglicht es, Irrtümer über unsere Verfassung schnell und treffsicher erkennen zu können.
I. Das Grundgesetz als Verfassung Deutschlands
Irrtum: Entgegen einem verbreiteten Irrglauben ist das Grundgesetz („GG“) – trotz seines andersverlautenden Namens – die Verfassung Deutschlands und nicht etwa (nur) ein Provisorium. Dies folgt bereits daraus, dass demokratische Verfassungen Ausdruck der kollektiven Selbstbestimmung sind und sie damit immer einen gewissen provisorischen Charakter haben (Möllers, Das Grundgesetz, 2. Aufl. 2019, S. 21). Denn könnte eine Verfassung nicht geändert werden und wäre somit endgültigen Charakters, wäre die kollektive Selbstbestimmung aufgehoben und die Bürgerinnen und Bürger wären unter einer statischen Verfassung entmündigt. Konsequent heißt es daher in Art. 146 GG:
„Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
II. Prägender Ursprung des Grundgesetzes
Verfassungen zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie Rechtstexte und zugleich politische Gründungsdokumente sind (vgl. Möllers, a. a. O. S. 9, 13). Ersteres führt dazu, dass Verfassungen grundsätzlich der juristischen Auslegung und Anwendung ebenso zugänglich sind wie andere Rechtstexte – freilich unter Beachtung einiger Besonderheiten bei der juristischen Methodik. Letzteres macht sie hingegen zum Fundament eines politischen Systems.
Sind Verfassungen das Fundament eines politischen Systems, liegt es auf der Hand, dass für ihr Verständnis – auch als Rechtstext – der politische Kontext, in dem sie entstanden sind, besonders wichtig ist. Das Grundgesetz entstand im Jahr 1949 und somit nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Nationalsozialismus. Es verwundert daher nicht, dass im Grundgesetz auch die negativen Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus „verarbeitet“ wurden und – teils expliziten, teils impliziten – Niederschlag im Rechtstext gefunden haben. Neben den Negativlehren aus dem Nationalsozialismus diente auch die Weimarer Reichsverfassung als eine negative Erfahrung, aus der es für die Gestaltung des Grundgesetzes zu lernen galt. Die Weimarer Reichsverfassung hatte eine staatsorganisationsrechtliche Grundstruktur, die den Aufstieg der Nationalsozialisten begünstigte. Dies ist einer der Gründe, warum der Bundespräsident im Verhältnis zum Bundestag und der Bundesregierung unter dem Grundgesetz eine eher abgeschwächte Funktion innehat.
Diese beiden prägenden Erfahrungen sind in unterschiedlichster Gestalt immer wieder im Rechtstext und bei der Auslegung und Anwendung der einzelnen Artikel des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht anzutreffen. Insbesondere durch die Erfahrungen des Nationalsozialismus hat das Grundgesetz durch die sogenannte wehrhafte Demokratie ein starkes „institutionelles Immunsystem“ bekommen (Möllers, Das Grundgesetz, 2. Aufl. 2019, S. 35). Zur wehrhaften Demokratie gehört etwa auch die sog. Verfassungsidentität nach Art. 79 Abs. 3 GG, die sogar im Wege einer Verfassungsänderung nicht abgeändert werden kann:
„Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“
III. Das Grundgesetz zwischen Herrschaftsbegründung und Herrschaftsbeschränkung
Durch die geschichtlichen Prägungen hat das Grundgesetz eine starke herrschaftsbeschränkende Funktion erhalten (siehe hierzu und zum Folgenden auch Möllers, a. a. O. S. 41 f.). Das Grundgesetz zielt – stark vereinfacht – drauf, die Bürgerinnen und Bürger bestmöglich vor dem Zugriff des Staates (Herrschaft) zu schützen. Diese Funktion wird vor allem durch die Grundrechte verwirklicht. Zugleich kommt dem Grundgesetz allerdings eine herrschaftsbegründende Funktion zu. Das Grundgesetz soll im Interesse der demokratischen Selbstbestimmung die Herrschaft ermöglichen. Diese vielleicht auf den ersten Blick als paradox erscheinende Konstruktion findet ihren verständlichen Ausgangspunkt in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG): Der Einzelne soll sich selbstbestimmt entfalten können. Dies gelingt allerdings nur, wenn Art. 1 Abs. 1 GG als fundamentale Grundgesetzbestimmung gleichrangiger Ursprung für die individuelle und die kollektive Selbstbestimmung ist. Die individuelle Selbstbestimmung, die durch die Grundrechte garantiert wird, ermöglicht die Entfaltung des Einzelnen auf einer ersten privaten Stufe. Zugleich gehört es zur Selbstbestimmung aber auch, dass der Einzelne im Kollektiv mit anderen die politischen und gesellschaftlichen Strukturen des Gemeinwesens bestimmen soll. Denn nur so kann sich der Einzelne, der in der Gesellschaft mit anderen lebt, auf einer zweiten gesellschaftlichen Stufe auch wirklich voll entfalten. Diese kollektive Selbstbestimmung findet sich primär im staatsorganisationsrechtlichen Teil des Grundgesetzes. Diese beiden Formen der Selbstbestimmung sind aufgrund ihres gleichen Ursprungs keine Gegensätze, sondern zwei binäre Grundprinzipien (Di Fabio, Schwankender Westen, 2015, S. 139).
Irrtum: Eine absolute Freiheit des Einzelnen kann es daher nicht geben (Leitgedanken des Rechts/Murswiek, § 19 Rn. 15). Vielmehr ist immer ein Ausgleich zwischen der individuellen Selbstbestimmung auf der einen Seite und der kollektiven Selbstbestimmung (der Mehrheit) auf der anderen zu suchen. Dieser Ausgleich soll durch die einfachen Gesetze erfolgen, die insoweit gewisse Konkretisierungen dieses verfassungsrechtlichen „Ursprungsproblems“ sind. Eine Freiheitseinschränkung ist daher aus verfassungsrechtlicher Sicht zunächst einmal immer auch eine Folge dieser verfassungsrechtlichen Grundstruktur. Erst eine ungerechtfertigte Freiheitseinschränkung wird von der Verfassung untersagt.
IV. Die Grundrechte
Die besondere Bedeutung der Grundrechte für das Grundgesetz erkennt man bereits daran, dass die Grundrechte direkt zu Beginn der Verfassung aufgeführt sind. Die Weimarer Reichsverfassung diente hier als Negativbeispiel, bei der die Grundrechte erst nach dem Staatsorganisationsrecht aufgeführt wurden. In den Art. 1 bis 19 GG finden sich die Grundrechte, wobei die Verfassung noch weitere Grundrechte und auch grundrechtsähnliche Rechte kennt, die in der Verfassung verteilt an unterschiedlichster Stelle zu finden sind. Beispielsweise finden sich in Art. 101 bis 104 GG die sogenannten Justizgrundrechte.
Die Grundrechte bilden geschützte Bereiche (Schröder JA 2016, 641), in denen der Bürger sich frei entfalten können soll und bei denen der Staat einer besonderen Rechtfertigungslast unterliegt, wenn er in diese Bereiche eingreift (Murswiek, a. a. O. § 19 Rn. 16). Eine absolute Freiheit gibt es hingegen nicht (hierzu bereits unter III.)
V. Staatsorganisationsrecht
Das Staatsorganisationsrecht bestimmt hingegen, wie das politische System Deutschlands aussieht und wie die vom Grundgesetz beabsichtigte Herrschaft ermöglicht werden kann. Ausgangspunkt der grundgesetzlichen Staatsorganisation ist Art. 20 Abs. 1 GG:
„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“
Hieraus lassen sich die vier Staatsstrukturprinzipien Republik, Demokratie, Sozialstaat und Bundesstaat herleiten, wohingegen das fünfte Staatsstrukturprinzip „Rechtsstaat“ – im staatsorganisationsrechtlichen Teil des GG (siehe für die Grundrechte Art. 16 Abs. 2 GG) – erst in Art. 28 Abs. 1 GG erwähnt wird.
Während der Begriff der Republik größtenteils so verstanden wird, dass hiermit nur die Abwesenheit der Monarchie gemeint ist und der Begriff des Bundesstaates durch den Politik- und Verwaltungsalltag auch für einen Laien – jedenfalls dem Grunde nach – greifbar ist, sind die Begriffe „Demokratie“ und „Rechtsstaat“ schillernder und komplexer. Der Rechtsstaat unterteilt sich in einen formellen und einen materiellen Rechtsstaat. Mit dem formellen Rechtsstaat wird die besondere Bedeutung der Gesetze (Herrschaftsbeschränkung) erfasst, wohingegen der materielle Rechtsstaat auf die Grundrechte zielt. Demokratie ist hingegen eine besondere Herrschaftsform, sie soll kollektive Entscheidungen ermöglichen (Heun, Die Verfassungsordnung der BRD, S. 37). Demokratie unter dem Grundgesetz meint, dass die ausgeübte Staatsgewalt auf das Volk (als Bezugspunkt der oben dargelegten kollektiven Selbstbestimmung) zurückgeführt werden muss. Hierfür hat sich der Begriff der demokratischen Legitimation (Rechtfertigung) herausgebildet. Die demokratische Legitimation erfordert – vereinfacht formuliert – eine inhaltliche, eine personelle und eine funktionell-organisatorische Legitimation, wobei Letzteres neben der Gewaltenteilung keine eigenständige Bedeutung hat. Dreh- und Angelpunkt für die Legitimation ist das Parlament – der Deutsche Bundestag – als einziges direkt vom Volk gewähltes Staatsorgan. Die inhaltliche Legitimation wird vor allem durch die Gesetze des Parlamentes und der gleichzeitigen Gesetzesbindung der Verwaltung hergestellt. Die personelle Legitimation erfordert eine ununterbrochene Legitimationskette. Gemeint ist damit, dass jeder Amtsträger jedenfalls mittelbar durch eine Personalentscheidung des Parlaments ins Amt gekommen sein muss.
Neben diesen Staatsstrukturprinzipien hat auch die Gewaltenteilung eine tragende Bedeutung für die Staatsstruktur des Grundgesetzes. Die Gewaltenteilung hat nicht nur eine demokratische und rechtsstaatliche Wurzel, sondern ihr kommt darüberhinausgehend eine eigene Funktion zu (Di Fabio, HStR, § 27 Rn. 11). Ihr Ausgangspunkt findet sich in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG:
„Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“
Aus dieser Bestimmung werden eine organisatorische und eine funktionelle Gewaltenteilung hergeleitet. Als Funktionen (Tätigkeiten/Gewalten) kennt das Grundgesetz die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt (Regierung und Verwaltung) und die Rechtsprechung. Diese Tätigkeiten werden sodann von bestimmten Organen (Bundestag, Bundesregierung etc.) ausgeübt. Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG nimmt hingegen keine Zuweisung der Funktionen auf die einzelnen Organe vor.
Irrtum: Eine feste und ausschließliche Zuweisung einer Funktion zu einem Staatsorgan kennt das Grundgesetz grundsätzlich nicht. Es ist daher beispielsweise nicht richtig, davon auszugehen, nur die Bundesregierung (Organ) kann regieren (Funktion). Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht spätestens mit dem sogenannten wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt deutlich gemacht, dass die Gewaltenteilung keine derartig starren Grenzen kennt. Nach dem wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt muss das Parlament einem Auslandseinsatz der Bundeswehr zustimmen.
VI. Ausblick
Das Grundgesetz steht derzeit besonders im Fokus der politischen Aufmerksamkeit. Denn durch die Veränderungen in der politischen Landschaft Deutschlands und dem Erstarken rechtsgerichteter Parteien wächst die Sorge, das Grundgesetz könnte diesen zum Opfer fallen, allen voran die Stellung des Bundesverfassungsgerichts. Die aufgezeigten Strukturelemente des Grundgesetzes machen deutlich, dass das Grundgesetz insoweit dynamisch ist, als es Gestaltungsraum lässt, der vom politischen Alltag ausgefüllt werden soll und kann. Die sogenannte Verfassungswirklichkeit, also der gelebte Alltag der normativen Bestimmungen des Grundgesetzes, hat eine gleichfalls tragende Bedeutung. Der Schutz unserer Verfassung muss daher rechtlich und zugleich im gelebten demokratischen Alltag erfolgen.
Rechtsanwalt Dr. Dr. Malte Seyffarth