Arbeitsrecht 01/2022
Aktuelle praxisrelevante Rechtsprechung
I. BAG: Kein Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Dauer der Kündigungsfrist (Urteil vom 08.09.2021 – 5 AZR 149/21)
Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die am Tag der Eigenkündigung eines Arbeitnehmers ausgestellt ist und eine Arbeitsunfähigkeit passgenau für die Dauer der Kündigungsfrist bescheinigt, begründet ernsthafte Zweifel am Vorliegen einer Erkrankung des Arbeitnehmers. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung stelle grundsätzlich – so das BAG – das wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit dar. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründet jedoch keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit mit der Folge, dass nur der Beweis des Gegenteils zulässig wäre. Eine am Tage der Eigenkündigung eines Arbeitnehmers ausgestellte Arbeitsunfähigkeit, die eine Arbeitsunfähigkeit passgenau für die Kündigungsfrist bescheinige, begründet ernsthafte Zweifel am Vorliegen einer Erkrankung. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist in diesem Fall erschüttert. Nach den allgemeinen Grundsätzen muss in einem solchen Fall im Falle einer streitigen Auseinandersetzung von dem Arbeitnehmer durch substantiierten Vortrag dargelegt und bewiesen werden, dass die Arbeitsunfähigkeit tatsächlich bestand.
Anmerkung: Die Möglichkeiten für den Arbeitgeber, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, sind unter Zugrundelegung der bisherigen Rechtsprechung des BAG äußerst beschränkt. Insofern stellt die vorliegende Entscheidung lediglich eine Einzelfallentscheidung dar. Die Entscheidung enthält keine generellen Aussagen darüber, wann und unter welchen Umständen der Beweiswert einer ärztlich ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung anzunehmen ist.
II. BAG: Auch bei langzeiterkrankten Arbeitnehmern erlischt der gesetzliche Urlaubsanspruch gem. § 7 III 3 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres, sofern es dem Arbeitnehmer wegen durchgehender Arbeitsunfähigkeit nicht möglich war, den Urlaub (vollständig) zu nehmen (Urteil vom 07.09.2021 – 9 AZR 3/21)
Die Entscheidung ist für die Praxis von erheblicher Bedeutung, da bis zu dieser Entscheidung unterschiedliche Urteile der Landesarbeitsgerichte ergangen waren. Das BAG wendet die Begrenzung des Urlaubsabgeltungsanspruchs auf einen Zeitraum von 15 Monaten nach Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahres auch auf die Fälle an, in denen der Arbeitgeber es während der Dauerarbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers unterlassen hatte, seiner Mitwirkungspflicht zur Inanspruchnahme des Urlaubs durch den Arbeitnehmer nachzukommen. Den Arbeitgeber trifft grundsätzlich eine Mitwirkungsobliegenheit bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs dahingehend, diesen aufzufordern, seinen Urlaub zu nehmen und ihm klar und rechtzeitig mitzuteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub nicht beantragt (s. hierzu: Mandanteninformation 03/2020). Das BAG hat nunmehr klargestellt, dass diese Mitwirkungsobliegenheit jedenfalls dann nicht besteht, wenn der Arbeitnehmer aufgrund seiner durchgehenden Arbeitsunfähigkeit nicht in der Lage war, seinen Urlaub zu nehmen. Die Frage, ob auch dann die entsprechende Mitwirkungsobliegenheit bei Langzeiterkrankten nicht besteht, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub eines Jahres bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumindest teilweise hätte nehmen können, ist damit nicht entschieden. Diese Frage ist Gegenstand eines noch nicht entschiedenen Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH. Für die Praxis wichtig ist: Ist der Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers zum Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit bereits erfüllt, erlischt der Urlaubsabgeltungsanspruch nach langandauernder Erkrankung gem. § 7 III BUrlG in jedem Fall 15 Monate nach Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahres.
III. LAG Hamm: Lohnabrechnungen sind grundsätzlich in Papierform zu erteilen (Urteil vom 23.09.2021 – 2 Sa 179/21)
Das Gericht stellt fest, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, die Lohnabrechnungen in Textform zu erstellen und den Arbeitnehmern zusätzlich zu erteilen (§ 108 GewO). Stellt ein Arbeitgeber die Abrechnungen in seinem Online-Portal bereit, hat er damit zwar die Textform (§ 126b BGB) gewahrt, die Abrechnung ist aber nicht ordnungsgemäß erteilt. Hierfür sei erforderlich, dass die Abrechnung nicht lediglich zum Abruf bereitgestellt werde, sondern dem Arbeitnehmer auch entsprechend zugehe. Anderes gelte nur, wenn der Arbeitnehmer mit der Bereitstellung in der Online-Plattform ausdrücklich oder konkludent einverstanden ist.
Anmerkung: Ausdrücklich möglich ist es nach dem Urteil des LAG Hamm, die Lohnabrechnung an die betriebliche E-Mail-Adresse des Arbeitnehmers zu übersenden; hierbei müssen aber die datenschutzrechtlichen Vorgaben beachtet werden.
IV. ArbG Hamburg: Keine Kündigung ohne Abmahnung bei Corona-Testverweigerung des Arbeitnehmers (Urteil vom 24.11.2021 – 27 Ca 208/21)
Die Anordnung des Arbeitgebers, die von ihm bereitgestellten Corona-Schnelltests durchzuführen, soweit Arbeitnehmer nicht geimpft sind und kein aktuelles Testergebnis vorlegen können, ist rechtmäßig. Arbeitnehmer, die gegen diese Weisung verstoßen, handeln schuldhaft und verletzen ihre arbeitsvertraglichen Verpflichtungen. Vor einer Kündigung wegen der Verweigerung der Durchführung eines Tests muss jedoch wie bei grundsätzlich allen verhaltensbedingten Kündigungen eine Abmahnung ausgesprochen werden, weil – so das Gericht – nicht auszuschließen sei, dass der Arbeitnehmer im Falle der Androhung von Konsequenzen seine Verweigerungshaltung aufgeben könnte.
Anmerkung: Weigert sich ein Arbeitnehmer den 3G-Status nachzuweisen, ist auch dies abmahnungswürdig. Davon abgesehen besteht für den Arbeitgeber jedoch die Möglichkeit, den Arbeitnehmer unbezahlt von der Arbeit freizustellen, weil ihm mangels 3G-Nachweis eine Beschäftigung nicht möglich ist und der Arbeitnehmer seine Arbeitskraft nicht ordnungsgemäß anbietet.
Rechtsanwalt Dr. jur. Wolfgang Leister
Fachanwalt für Arbeitsrecht