
Vergaberecht aktuell
Kein Alleinstellungmerkmal bei selbstverursachter Ausschließlichkeit
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 09.01.2025 in einem Urteil (Rs. C-581/23) die Anforderungen an das Vorliegen eines Alleinstellungsmerkmals präzisiert und den Anwendungsbereich der Ausnahmeregelung weiter eingeschränkt. Der Gerichtshof stellte klar, dass eine Vergabe ohne vorherige Bekanntmachung nicht gerechtfertigt ist, wenn die Ausschließlichkeitssituation vom öffentlichen Auftraggeber selbst herbeigeführt wurde.
Zum Sachverhalt:
Das tschechische Finanzministerium schloss im Jahr 1992 einen Vertrag mit der Gesellschaft IBM World Trade Europe/Middle East/Africa Corporation (im Folgenden: IBM) zur Entwicklung eines Informationssystems für die tschechische Steuerverwaltung.
Im Jahr 2013 übernahm die Generaldirektion für Finanzen (GFD) die Verwaltung der Steuern der Tschechischen Republik an Stelle des Finanzministeriums. Im Jahr 2016 vergab die GFD ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung einen öffentlichen Auftrag über die Wartung des Informationssystems an die IBM. Begründet wurde der Verzicht auf eine öffentliche Ausschreibung u.a. mit der technischen Kontinuität und dem Schutz der ausschließlichen Urheberrechte der IBM. Der Auftragswert lag umgerechnet bei ca. 1.300.000 € netto.
Der EuGH musste entscheiden, ob Art. 31 Nr. 1 lit. b der Richtlinie 2004/18 so auszulegen ist, dass bei der Prüfung einer Ausschließlichkeitssituation auch die rechtlichen und tatsächlichen Umstände berücksichtigt werden müssen, die beim ursprünglichen Vertragsabschluss bestanden und auf denen die späteren öffentlichen Aufträge basieren.
Die Entscheidung:
Der EuGH stellte zunächst fest, dass die Richtlinie 2004/18 trotz ihrer Ablösung durch die Richtlinie 2014/24 anzuwenden war, da sie zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses galt. Seine Ausführungen lassen sich jedoch auch auf die derzeitige Rechtslage übertragen, da Art. 32 Abs. 2 lit. b) der aktuell geltenden Richtlinie eine inhaltsgleiche Regelung enthält.
Der EuGH betonte, dass das Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung Ausnahmecharakter habe und nur in bestimmten, gesetzlich normierten Fällen statthaft sei. Dies sei der Fall, wenn – wie in Art. 31 Nr. 1 lit. b der Richtlinie 2004/18 vorgesehen – der öffentliche Auftraggeber einen öffentlichen Bau-, Liefer- und Dienstleistungsauftrag aus technischen oder künstlerischen Gründen oder aufgrund des Schutzes von Ausschließlichkeitsrechten nur an einen bestimmten Wirtschaftsteilnehmer vergeben kann. Kumulativ müssen zwei Voraussetzungen vorliegen:
1. Die Vergabe muss aus technischen oder künstlerischen Gründen oder auf Grund des Schutzes von Ausschließlichkeitsrechten an einen Wirtschaftsteilnehmer erfolgen und
2. sie muss aus diesen Gründen unbedingt erforderlich sein.
Als Ausnahmevorschrift sei diese Norm eng auszulegen. Die Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen trage derjenige, der sich auf die Ausnahme beruft.
Der EuGH hob hervor, dass öffentliche Auftraggeber verpflichtet seien, alles zu tun, was vernünftigerweise von ihnen erwartet werden könne, um die Anwendung der Ausnahmevorschrift zu vermeiden und damit auf ein Verfahren zurückzugreifen, das für den Wettbewerb offener sei. Mit diesem Erfordernis wäre es unvereinbar, wenn einem öffentlichen Auftraggeber gestattet wäre, die Ausnahmevorschrift anzuwenden, obwohl er die Ausschließlichkeitssituation selbst geschaffen hat und diese ihm daher zuzurechnen ist. Insofern müsse der öffentliche Auftraggeber zusätzlich beweisen, dass ihm die Ausschließlichkeitssituation nicht zuzurechnen ist.
Für den konkreten Fall bedeutete dies, dass die tschechischen Gerichte nun feststellen müssen, ob eine Ausschließlichkeitssituation überhaupt vorlag und ob sie dem öffentlichen Auftraggeber zuzurechnen war. In Bezug auf die bestehenden Ausschließlichkeitsrechte der IBM müssen die nationalen Gerichte sich mit der Frage auseinandersetzen, ob dem öffentlichen Auftraggeber eine Möglichkeit zur Beendigung der Ausschließlichkeitssituation (ggf. durch Übertragung der urheberrechtlichen Verwertungsrechte) zur Verfügung stand.
Fazit:
Das Urteil des EuGH verdeutlicht, dass öffentliche Auftraggeber die Verfahrensart wählen müssen, die den Wettbewerb so wenig wie möglich einschränkt. Ausnahmevorschriften sind restriktiv auszulegen. Bei der Annahme eines Alleinstellungsmerkmals ist zum einen zu prüfen, ob eine Ausschließlichkeitssituation vorliegt und ob diese ggf. dem öffentlichen Auftraggeber zuzurechnen ist. Zukunftsorientiertes Vertragsmanagement ist essenziell. Bei Vertragsabschluss ist stets darauf achten, dass durch die Ausgestaltung der Verträge keine Ausschließlichkeitssituationen geschaffen werden. Ist das geistige Eigentum des Auftragnehmers berührt, so empfiehlt es sich, bereits bei Vertragsabschluss die Übertragung der Rechte vertraglich zu regeln.
Rechtsanwältin Anna Hanke, LL. M.